Posted on March 15, 2017 10:35 AM
Die Augen sind geschlossen, die Sonne scheint wohlig warm auf den Körper, die Fingerspitzen berühren zaghaft den warmen Sand, der sich hier und da auf das Strandtuch schummelt. Das Meeresrauschen im Hintergrund, ein herrlich beruhigendes Geräusch, das die Entspannung erst so richtig perfekt macht... Und bedauerlicherweise gibt es sie auch - Geräusche, die offensichtlich und nahezu allgemeingültig als unangenehm empfunden werden: das Quietschen von Kreide auf der Tafel, das Pfeifen eines Mikrofons in der Rückkopplung, summende Mücken und auch das Schreien eines Babys in höchsten Tönen.. Doch wie kann es sein, dass sogar unser eingangs genanntes, gleichmäßiges und ruhiges Wellenrauschen bei einem Menschen zuverlässig emotionales Unbehagen auslösen kann? Wie hängen sie zusammen, die Geräusche und die Gefühle?
So verschiedenartig und individuell die genetische Ausstattung eines jeden Menschen ist, so unterschiedlich und einzigartig sind auch dessen Umwelterfahrungen. Daraus ergibt sich eine Vielzahl von Möglichkeiten, mit derer beispielsweise die Fähigkeiten, akustische Reize wahrzunehmen und zu verarbeiten, auf Erfahrungen un-/angenehm erlebter Geräusche treffen.
Diese Zusammenhänge zu erforschen, ist Gegenstand der Psychoakustik, der „Wissenschaft im Grenzgebiet zwischen Psychologie, Physiologie und Physik “ (Görne, 2006). Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts beschäftigte sich Gustav Theodor Fechner mit Untersuchungen des Zusammenhangs zwischen Schallereignissen (physikalische Größen) und menschlichen Sinneswahrnehmungen (psychoakustische Empfindungsgrößen). So konnte Fechner (1860) zeigen, dass Schallempfindungen (z.B. Lautstärke) nur bedingt aus physikalischen Größen (z.B. Schalldruckpegel) bestimmbar seien.
Psychoakustische Phänomene, die deutlich aufzeigen, dass der Zusammenhang zwischen Schall- und Hörereignissen komplex und zudem interindividuell verschieden, ja sogar auch pathologisch sein kann, stellen die Misophonie und die Hyperakusis dar. Diese, sowie die Phonophobie, sollen anschließend näher erläutert werden.
Die Misophonie kann nach ihrer griechischen Wortherkunft übersetzt werden mit „Hass auf Geräusche“. Bereits in den 90er Jahren beschäftigten sich die Neurowissenschaftler Pawel und Jastreboff mit diesem Phänomen, das charakterisiert ist als verminderte Toleranz gegenüber Geräuschen, die ohne Ausnahme von Menschen produziert werden (z.B. Schmatzen, lautes Atmen, Schniefen, Schnarchen). Eine Konfrontation mit den Geräuschen löst bei den Betroffenen zuverlässig eine Reaktion aus: Wut - wobei die Einsicht besteht, dass diese unvernünftig und übersteigert ist. Die misophonischen Reize werden i.d.R. vermieden und damit auch soziale Situationen, in denen sie auftreten können.
Da es bis heute nicht viele Studien gibt, die sich mit der Erforschung der Misophonie beschäftigen, ist unklar, ob hierbei eine Wahrnehmungsstörung vorliegt. Schröder, Vulink und Denys (2013) schlagen sogar vor, von einer eigenständigen psychiatrischen Erkrankung zu sprechen. Auffällig war, dass mehr als die Hälfte (52,4%) ihrer Studienteilnehmer mit misophonischen Symptomen (n = 42) eine zwanghafte Persönlichkeitsstörung aufwiesen (Komorbidität). Die von Schröder et al. (2013) vorgeschlagenen diagnostischen Kriterien müssen jedoch zunächst in weiteren Studien validiert werden. Die Lebenseinschränkung (Vermeidung sozialer Situationen) und der Leidensdruck der Betroffenen mit Misophonie sind deutlich abzugrenzen von dem Erleben normaler Missempfindungen gegenüber der genannten Geräusche, wie sie ein jeder kennt.
Die Hyperakusis ist dadurch gekennzeichnet, dass bei dem Betroffenen „eine negativ bewertete, subjektive Überempfindlichkeit gegenüber Geräuschen normaler Lautstärke (unterhalb 70-80 dB HL)“ besteht und diese mit physiologischen Schreckreaktionen einhergehen, wie z.B. Blutdruckveränderungen, Schweißsekretionen und Muskeltonuserhöhungen (Schaaf, Kastellis und Hesse, 2009).
Charakteristisch ist laut Schaaf et al. (2009), dass die verminderte Toleranzgrenze gegenüber normallauten Geräuschen für das gesamte Frequenzspektrum der menschlichen Hörfähigkeit gilt. So fühlen sich Betroffene beispielsweise nicht mehr in der Lage, ihrem Job konzentriert im Großraumbüro nachzugehen, in dem sie jedoch viele Jahre zuvor problemlos gearbeitet haben. Die Geräuschüberempfindlichkeit ist als Problem der Hörfilterfunktionen zu betrachten und kann langfristig zur Frustration des Betroffenen und Vermeidung der vermeintlich lauten Umgebung führen.
Die Hyperakusis findet in der amtlichen Klassifikation zur Verschlüsselung von Diagnosen (ICD-10) einen Platz unter dem Kode H 93.2 („sonstige abnorme Hörempfindungen“).
Ein Geräusch normaler Lautstärke erzeugt beim Betroffenen körperliche Reaktionen. (z.B. Blutdruckanstieg).
Die Phonophobie (auch Ligyrophobie genannt) ist eine Angststörung. Die Betroffenen haben eine krankhafte und übersteigerte Angst vor lauten Geräuschen, wie z.B. platzenden Luftballons, Feuerwerkskörpern oder Pistolenschüssen. Die Geräusche werden als „überlaut, schädigend oder bedrohlich“ (Hesse, 2008) wahrgenommen, während andere akustische Reize im gleichen Frequenzspektrum keine Angstreaktion auslösen. Als spezifische Phobie ist sie unter dem Kode F40.2 (spezifische (isolierte) Phobien) im ICD-10 verschlüsselt.
Schaaf et al. (2009) stellen die Ursache der Phonophobie als Ergebnis von Lernprozessen (Konditionierung) dar. In der Vergangenheit der Betroffenen wurden die Geräusche zumeist unbewusst mit einer negativen Erfahrung (z.B. einem negativen Gefühlszustand) verknüpft. Die Angstreaktion geht im weiteren Verlauf mit Vermeidungsverhalten einher, das Spektrum der angstauslösenden Geräusche kann sich ausweiten und damit den Leidensdruck der Betroffenen erhöhen.
Ein lautes Geräusch erzeugt beim Betroffenen eine krankhafte, übersteigerte Angstreaktion.
Gibt es hinsichtlich der Hyperakusis und Phonophobie bereits Symptomcharakteristiken, die sich in der amtlichen Klassifikation von Diagnosen (ICD -10) wiederfinden und damit Diagnosekriterien, sowie Therapiemöglichkeiten (Hör- und/oder Psychotherapie) ermöglichen, muss das Phänomen der Misophonie in zukünftiger Forschung noch eingehender untersucht werden, um auch hier Betroffenen eine hinreichende Diagnose und Behandlung zu gewährleisten.
Denn sie hängen - wenn auch komplex - zusammen, die Geräusche und die Gefühle.
In unregelmäßigen Abständen veröffentlichen wir hier verschiedene Abhandlungen über akustische Themen. Aktuell sind die Folgenden online: